Erinnerungsgang zur Reichspogromnacht vom 9. / 10. November 1938 in Oldenburg

„Es ist geschehen,
und folglich kann
es wieder geschehen.
Es kann geschehen, überall.“

Primo Levi

Seit 1988 findet in Oldenburg alljährlich am 10. November der Erinnerungsgang statt. Er gemahnt an die Reichspogromnacht des 9. November 1938. In dieser Nacht wurden alle jüdischen Männer der Stadt Oldenburg von den Faschisten festgenommen. Am Morgen des 10. November 1938 mussten die Gefangenen von der Polizeikaserne aus quer durch die Innenstadt – an der ausgebrannten Synagoge vorbei – zum Landgerichtsgefängnis gehen. Am folgenden Tag wurden sie zusammen mit etwa 500 weiteren jüdischen Männern aus dem Land Oldenburg und aus Ostfriesland in das Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin transportiert. Die meisten von ihnen wurden in der Folge ermordet; nur wenigen gelang die Flucht ins Ausland.

Der Erinnerungsgang, der denselben Weg geht, den die verhafteten Juden nehmen mussten, soll an die Verbrechen während des Faschismus erinnern und eine Aufforderung für die Zukunft sein. Er soll ein Zeichen setzen für die Menschenrechte und die Menschenwürde, und er soll ein Zeichen sein gegen Gewalt, gegen Fremdenfeindlichkeit, gegen Rassismus und gegen Antisemitismus heute.

Organisiert wird der Erinnerungsgang durch einen Arbeitskreis. Dieser Initiative gehören an: die Stadt Oldenburg, der Arbeitskreis Friedenswoche,die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Oldenburg,die Jüdische Gemeinde, die evangelischen Kirchenkreise, die methodistische Kirche, das katholische Dekanat, die Justizvollzugsanstalt Oldenburg, dem Verein Werkstatt Film, unsere AG „Für den Frieden“.

Erinnerungsgang 2001
Rede der AG „Für den Frieden“ im Innenhof des Gefängnisses

1 Jens

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe FreundInnen,

Erinnerung an den Holocaust soll in erster Linie folgendes bezwecken: Sie soll uns ermahnen, solch menschenverachtende Greueltaten, wie sie die deutschen Faschisten gegenüber Juden, gegenüber Sinti und Roma und allen anderen, die anders waren, nie wieder zu zulassen. Vielen von uns ist das bewusst. Und diese Menschen setzen sich auch aktiv ein für eine Welt voll Menschlichkeit und Toleranz.

Genau das tun wir alle zusammen auch hier und heute, indem wir der Opfer der Reichspogromnacht in Oldenburg gedenken.

Schön, dass Ihr dazu alle gekommen seid.

2 Lars

50 Neonazis probten am letzten Oktober-Wochenende den Aufmarsch in dieser Stadt, in der Stadt, die 1933 die erste Hochburg der Nationalsozialisten im Land war. Ein Vorhaben mit besonderen Vorzeichen also. Entsprechend groß war denn auch die Gegenwehr der OldenburgerInnen. Über 1 000 Menschen stellten sich der Präsenz der braunen Pest entgegen – und das mit Erfolg. Trotz Polizeikessel und trotz Geleitschutz durch die Staatsmacht konnten die Rechtsextremisten gebremst werden: Kein Zug rund um die Innenstadt und keine Kundgebung auf dem Schloßplatz. Die Bürger und BürgerInnen Oldenburgs haben damit gezeigt, dass sie Faschismus und Antisemitismus eine klare Absage erteilen, dass Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz in dieser Stadt keine Chance haben.

Und die Zivilgesellschaft hat ihre Funktionstüchtigkeit bewiesen. Eindrucksvoll hat sie gezeigt, dass Zuständigkeit und Zivilcourage der Anständigen nicht nur Theorie und Anspruch sind, sondern von mündigen und verantwortungsbewussten Menschen auch praktiziert werden. Viel versprechend ist dabei besonders, dass vor allem Menschen unserer Generation den Faschisten getrotzt haben. Die Lehren aus der deutschen Geschichte haben sie dazu gebracht, nicht einfach wegzuschauen und zuzulassen.

Auch unsere heutige Gedenkveranstaltung zeigt, dass wir alle hier aus unserer Vergangenheit gelernt haben und nichts und niemanden vergessen werden.

3 Jens

Zufriedengeben können wir uns damit dennoch nicht. Die Welt hat nach wie vor vieles dazu zu lernen. Das beweist in diesen Tagen auf traurige Art und Weise der Krieg um Afghanistan. Da gibt es einerseits das nicht legitimierte Regime der Taliban: Der Gottesstaat der radikal-islamistischen Mullahs hat die Menschenrechte faktisch abgeschafft. Das Land befindet sich auf dem Entwicklungsniveau des Mittelalters. Das Gesetz der Scharia ahndet jede Übertretung des islamischen Rechts mit barbarischer Härte. Gerade die Frauen unterliegen einer konsequenten Entrechtung. Darüber hinaus werden alle Andersdenkenden, die nicht dem Fundamentalismus der „Koranschüler“ entsprechen, diskriminiert und verfolgt. Deshalb haben die Taliban die Buddha-Statuen gesprengt und den Hindus – wie die Geschichte sich doch immer wieder wiederholt – einen gelben Stern auferlegt. Die Taliban riegeln ihr Land von allen Außeneinflüssen hermetisch ab, zum Beispiel durch ein allgemeines Medienverbot.

4 Lars

Andererseits gibt es aber auch ein Vorgehen der westlichen Zivilisation, das auch nicht auf Gleichberechtigung der verschiedenen Lebensweisen setzt: Führungsanspruch anstelle von emanzipiertem Dialog. Die Idee, den Terrorismus mit Waffengewalt besiegen und dabei zugleich die westliche Dominanzvorstellung durchsetzen zu wollen, hat sich nach drei Wochen Bombardements längst als untaugliches Mittel erwiesen. Getroffen wurden nicht die Strukturen des Terrorismus, dem selbstverständlich mit dienlichen Mitteln, und das heißt eben politisch, ökonomisch, sozial, mithin auf friedliche Weise, der Nährboden entzogen werden muss. Die Opfer sind derzeit die unschuldigen BewohnerInnen des ärmsten Landes der Welt, die Menschen, die selbst unter der Unterdrückung der Taliban leiden, die 3,5 Millionen afghanischen Flüchtlinge, die heute nicht wissen, wie sie den morgigen Tag erleben sollen.

Anstatt weitere, und jetzt wohl auch bundesdeutsche Soldaten nach Zentralasien zu schicken, sollten die Staatengemeinschaft und die UNO den Dialog aufnehmen. Weder Muslime in aller Welt noch die Afghanen dürfen mit dem Makel der Kollektivschuld gebrandmarkt werden. Dies kann kein Weg sein, Menschenrechte und Menschenwürde, zentrale Eckpfeiler einer offenen Zivilgesellschaft, umzusetzen. Nur der gleichberechtigte Dialog kann die Krisensituation des Terrorismus beseitigen. Notwendig ist es, den Terrorismus mit den Mitteln des Rechtsstaates zu bekämpfen, seine Organisationen und Drahtzieher zur Verantwortung zu ziehen und vor Gericht zu stellen. Nicht weniger dringend sind mittel- und langfristige Schritte, um dem Terrorismus zu Wasser abzugraben. Gelingen wird dies nur durch gleichberechtigte internationale Kooperation, durch eine humane Weltordnung in sozialer Gerechtigkeit und gemeinsamer Sicherheit.

5 Jens

Dieselbe Forderung nach Einhaltung der Grund- und Menschenrechte gilt selbstverständlich auch für unser eigenes Land. Wobei wir allerdings immer wieder Anlass zur Sorge haben. Beispiel Abschiebung.

Abschiebung bedeutet in der Bundesrepublik Deutschland 2001: Familien werden regelrecht auseinander gerissen, Kinder werden von ihren Eltern getrennt, menschliche Dramen provoziert. Menschen werden als „unproduktive Kostgänger“ fort gejagt, obwohl sie sich über einen langen Zeitraum in der BRD eingegliedert, hier Familie, Freunde und Arbeit gefunden haben und es ihnen hier wohl geht. Trotz alledem bedroht unser Staat sie mit der ungewissen Zukunft in ihrem Heimatland, in Ländern, die oftmals auch vor Folter und Mord nicht zurückschrecken. Menschliche Tragödien spielen sich ab, wenn der Staat sich zum Scheidungsrichter aufschwingt, wenn er Liebende trennt. Dazu nur ein Beispiel, das vor drei Tagen in der Frankfurter Rundschau zu lesen war:

6 Lars

Abschiebe-Drama ruft Mediziner auf den Plan

Die Hamburger Ausländerbehörde will eine junge Roma-Frau von ihren ebenfalls in der Hansestadt lebenden psychisch schwer kranken Eltern trennen und nach Kroatien abschieben. Nach Angaben ihrer Anwälte und des Arztes der Eltern hat sich der gesundheitliche Zustand der Eltern durch die Inhaftierung ihrer Tochter dramatisch verschlechtert. Nach ärztlicher Auskunft ist „in naher Zukunft mit erneuten suizidalen Handlungen beider Eltern zu rechnen“. Der Vater, dessen Duldung am 13. November abläuft, befindet sich wegen einer „posttraumatischen Belastungsstörung“ in psychiatrischer Behandlung. Sowohl der behandelnde Arzt als auch das Gesundheitsamt haben festgestellt, dass er nicht reisefähig ist und dass eine weitere Therapie und der Familienzusammenhalt für ihn dringend notwendig sind. Nachdem die Tochter in Abschiebehaft genommen wurde, erlitt der Vater laut ärztlicher Auskunft einen totalen psychischen Zusammenbruch. Er habe „unter Schockzustand gestanden, konnte vor Weinen und Zittern kaum sprechen“. Er habe „phantasiert, der Krieg sei zurückgekommen, bekundete die Absicht, sich zu töten“.
Er musste in eine Klinik eingeliefert werden. Auch die Tochter musste inzwischen in Haft ärztlich behandelt werden.

Frankfurter Rundschau 7.11.2001

7 Jens

Weitere Beispiele ließen sich zu hauf ergänzen. Solche Vorgänge sind nicht nur schäbig und inhuman; sie sind auch absolut überflüssig und widersprechen zudem dem Grundgesetz.

Artikel 1 GG

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

(2) Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

Menschen, die von Abschiebung bedroht sind, leben in permanenter Angst. Flüchtlinge und Asylanten, wurden viele von ihnen durch so genannte „ethnische Säuberungen“ oder wegen ihrer politischen Opposition brutalst aus der Heimat vertrieben. Zu viele von ihnen leiden an den Folgen von Vergewaltigungen, genitalen Verstümmelungen oder Folter. Die Schrecken der Vergangenheit schlummern in ihnen.

Hier kommt es auf uns an, Hilfe und Unterstützung zu bieten und diese Notleidenenden Menschen mit offenen Armen aufzunehmen. Wenn allerdings Asylsuchende nach einer nach einer Flucht voller unvorstellbarer Strapazen von der australischen Regierung unter dem Vorwand, „es könnten sich Terroristen unter den Flüchtlingen befinden“, mit massiver Waffengewalt daran gehindert werden, ihr Recht auf Asyl, ihr Recht auf Leben wahrzunehmen, dann stellt ein solches Verhalten natürlich auch eine Möglichkeit dar, lästige Abschiebungen von vorne herein zu vermeiden.

8 Lars

Wir verurteilen solche Taten, die man wohl politische und humane Fehltritte nennen muss, aufs Schärfste. Sie höhlen den Status von Flüchtlingen, Asylbewerbern, aber auch AusländerInnen insgesamt, von allen, die anders sind, aus. Sie machen alles Unbekannte und Fremde zu Feindbildern, die man am besten gar nicht erst ins Land lässt. Sei es nun aus Kostengründen oder weil sie angeblich ein sicherheitspolitisches Risiko darstellen.

Und in diesem Kontext fordert dann der Bundesinnenminister in seinem „Sicherheitspaket 2“ den Entzug der Aufenthaltsgenehmigung für AusländerInnen, falls sie die freiheitlich-demokratische Grundordnung der BRD gefährden. Was er dabei nicht mehr fordert, ist der notwendige Nachweis.

Auf dieser Basis genießen Abschiebungen heute eine breite öffentliche Unterstützung. Wir wollen das nicht. Und den verfolgten Menschen zu helfen und ihnen das Grundrecht es Asyl zu gewähren sollte doch gerade Auftrag jeder demokratischen Regierung sein.

Abschiebung aus Deutschland – das gibt es 2001 und das gab es auch schon 1938. Beides darf auf keinen Fall gleichgesetzt werden; zu unterschiedlich sind die nationalsozialistischen bzw. die demokratisch-rechtsstaatlichen Vorzeichen. Doch in beiden Fällen kommt die Verantwortung von uns allen zu kurz und auch die Beantwortung der Frage: Was wird eigentlich aus diesen Menschen nach ihrer Abschiebung? Das war im Jahre 1938 ein Verstoß gegen die Prinzipien der Menschlichkeit und Menschenrechte; und auch im Jahre 2001 ist dies eine Nagelprobe für eine humane Gesellschaft.

9 Jens

Wir wollen keine Welt der Einen und der Anderen, der Richtigen und der Falschen. Wir wollen eine Welt des Miteinanders und der Gleichberechtigung. Wenn jemand die Gleichwertigkeit von Menschen bestreitet, dann müssen wir ein klares Zeichen dagegen setzen: „Wir wollen, dass die dabei sind.“

Hier ist die Demokratie gefordert. Die Demokratie muss ihre Menschlichkeit zeigen. Und sie muss zeigen, dass sie wirklich die beste aller politischen Verfassungen sein kann.

Aufklären, aufeinander zugehen, miteinander leben – insofern geht es um den gesellschaftlichen Diskurs. Und dabei geht es vor allem auch um uns. Um die Jugend von heute und die Erwachsenen von morgen. Wir selbst müssen in politische und gesellschaftliche Prozesse eingreifen. Wir müssen die Zukunft selbst aktiv gestalten, genau da, wo wir leben, und das heißt eben nicht zuletzt in der Schule, in unserer Gemeinde, unserer Stadt. Und dabei immer eingedenk der Verantwortung, die wir für die ganze Welt und für nachfolgende Generationen haben.

10 Jens

In der Praxis bedeutet das dann ein solches Verhalten, dass das Eintreten für das Wohl des Anderen als selbstverständlichen Wert an sich verallgemeinert und das Zivilcourage als Normalität verbucht. Ein gesellschaftliches Klima, das Rassismus, Rechtsextremismus und Faschismus ohne Wenn und Aber ächtet. Es reicht deshalb eben auch nicht zu sagen: „Ich habe nichts gegen AusländerInnen.“ – Hinzukommen muss dann auch ein aktives Eintreten für die Unterdrückten und Gescholtenen. „Ich tue etwas für das Miteinander der Menschen.“

Das klingt vielleicht utopisch, aber es lohnt sich allemal. Wenn die Politik Bedingungen schafft für eine Welt in multikulti, wenn wir alle eintreten für die Rechte des anderen und Minderheiten mit Achtung und Würde begegnen, wenn wir alle zusammen einfach das „Recht auf Rechte“ (Arendt) einlösen, dann können wir vielleicht doch irgendwann einmal sagen: Wir leben in einer demokratischen Zivilgesellschaft der Menschenwürde, der Toleranz und des Friedens.

Mehr Informationen

Lesetips

  • Trepp, Leo: Die Landesgemeinde der Juden in Oldenburg. Oldenburg 1965
  • Meyer, Enno: Die jüdischen Familien in der Stadt Oldenburg um 1933. Oldenburg 1971 (Oldenburger Jahrbuch 70)
  • Pätzold, Kurt / Runge, Irene: Pogromnacht 1938. Berlin 1988
  • Erinnerungsbuch. Ein Verzeichnis der von der nationalsozialistischen Judenverfolgung betroffenen Einwohner der Stadt Oldenburg 1933 – 1945. Bremen 2001