Sinti und Roma

Die Minderheit der Sinti und Roma

Seit Jahrhunderten schreiben die Roma Geschichte. Ihre eigene Geschichte ebenso wie eine Geschichte gemeinsam mit anderen Völkern. Sie gehen einen Weg, dessen Fortgang sie nur in Etappen selbst bestimmen können; einen Weg, von dem sie weder Ziel noch Ergebnis immer kennen.

Die „offizielle Geschichte“ erübrigt selten mehr als Marginalien für die Roma: Romantische Schwärmereien für ihre virtuose Musik, unverdächtige Bruchstücke über ihren Leidensweg, vielleicht ein wenig Anteilnahme für das so genannte „Zigeunerleben“. Die Ursache ist nicht so sehr ein Mangel an Material, als vielmehr ein Mangel an Interesse, ein ausgeprägtes politisches, gesellschaftliches und kulturelles Desinteresse. So stehen die Roma gemeinhin am Ende der Reihe, eine bereits in der Vergangenheit und in der Gegenwart auch weiterhin bedrängte Minderheit.

Zum Begriff Sinti und Roma

Der Begriff „Roma“ stammt aus dem Romanes. Roma – zu deutsch: Menschen– ist sowohl die Bezeichnung für die Angehörigen der Minderheit in Südosteuropa als auch der Sammelname der gesamten Minderheit. Ein Mann bzw. Ehemann heißt „Rom“, eine Frau „Romni“. Sinti sind die Angehörigen der Minderheit, die seit dem ausgehenden Mittelalter in Mitteleuropa, insbesondere im deutschsprachigen Raum zu Hause sind. „Sinto“ ist die Bezeichnung für ein männliches Mitglied der Gruppe; „Sintezza“ für eine Frau der Gruppe. Heute leben die Sinti überwiegend in der BRD. Neuere Forschungen gehen davon aus, dass der seit dem 18. Jahrhundert gebräuchliche Name Sinti „nichts mit der indischen Provinz Sindh zu tun“ habe. Zusätzliche Sammelbegriffe wie Manuš, Calé oder Kalderaš kennzeichnen die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Untergruppe und implizieren oftmals deren traditionelle Berufstätigkeiten.

Die Nicht-Roma installieren statt der Subjektbegriffe „Roma“ und „Sinti“, die die Minderheit selbst verwendet, die Objektbezeichnung „Zigeuner“. Die Ableitung des Wortes „Zigeuner“ von den „Zieh-Gaunern“ ist eine deutsche Besonderheit aus dem 16. Jahrhundert. Darüber hinaus existieren in Europa weitere Fremdbezeichnungen, z.B. Heiden, Tataren, Sarazenen, Bohemians.

Der Begriff „Zigeuner“, den in jüngster Zeit z.B. die regionale Sinti-Allianz oder der Historiker Jäckel wieder zu etablieren versuchen, drängt über normierte Bilder und Vorstellungen die Minderheit an den Rand der Gesellschaft. Die Minderheit selbst besteht auf die Namen „Sinti“ und „Roma“. „Die Eigenbezeichnung Sinti und Roma ist wesentlicher Teil unserer Identität als Minderheit. In unserer pluralistischen Gesellschaft sollte dieses ureigenste Recht auf Selbstbestimmung respektiert werden. Wir sind keine „Zigeuner“ (Rose).

Zur Geschichte der Sinti und Roma

Vertrieben aus ihrer indischen Heimat, der Provinz Sindh, kommen die Roma vor 1.000 Jahren nach Europa. 1407 erreichen sie die Stadt Hildesheim. Deutsche Könige und Landesfürsten bitten Sinti-Musiker zu Hofe und stellen ihnen ebenso „Schutzbriefe“ aus wie deutsche Städte ihnen das „Bürgerrecht“ verleihen. Bereits 1416 jedoch vertreibt die Stadt Meißen die „Zigani“ aus ihren Mauern.

Der alte Kontinent zwingt seine neuen Mit-BewohnerInnen zu fortgesetzter Rastlosigkeit. Sinti und Roma erleiden das Schicksal ungeliebter Flüchtlinge: Oftmals rechtlos, mal mehr, mal weniger geduldet, regelmäßig
funktionalisiert, immer wieder verfolgt. Die Länder, die den Roma zwar keine Heimat, zumindest jedoch einen zeitweiligen Unterschlupf gewähren, sondern Sinti und Roma in Gitanerias ab, verordnen ihnen Berufsverbote, bringen sie um Leib und Leben, und sie strecken die Hand aus nach dem Hab und Gut der Roma.

Die Roma führen in der Geschichte verschiedene Leben, ein jedes mit seiner eigenen Wirklichkeit. Sie sind unter sich, wenn sie sich in einer Nische der übermächtigen „Gadsche“-Gesellschaft, der Gesellschaft der Nicht-Roma, niederlassen, oder wenn die „Gadsche“ sie mit dem Fluch des Sündenbocks zum Leben auf der Straße nötigen. Ein zweites Leben führen die Roma im Halbdunkel der Nicht-Roma, geprägt von der Notwendigkeit, Strategien der Anpassung an die „Gadsche“ einrichten zu müssen – zum Zwecke des eigenen Überlebens. Und es gibt ein drittes Leben, eines, das gegründet ist auf gegenseitigen Respekt. Parallel zum lange Zeit vorherrschenden Passionsweg der Roma pflegen Mehrheit und Minderheit eine Kultur freundschaftlicher Normalität, z.B. als ArbeitskollegInnen und als SportkameradInnen desselben Vereins.

Die Roma haben noch nie Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele eingesetzt, geschweige denn einen Krieg gegen ein anderes Volk geführt – ein einmaliges Phänomen in der Geschichte der Menschheit. Mit ihren kulturellen Leistungen erweitern die Roma den historischen Schatz der Menschheit: als Handwerker, Maler, Wissenschaftler, als Musiker. Sinti und Roma sind EuropäerInnen im besten Sinne und gelten dem Europarat als „True European Minority“. Sie inspirieren die Kultur des alten Europas, ihre Kultur hat Elemente vieler Länder und Völker aufgenommen.

Die „Gadsche“ aber schmähen die Roma als „Zigeuner“. Eingefleischte Vorurteile erklären Sinti und Roma zum Feind der abendländischen Zivilisation. Als antibürgerliches Subjekt, das stiehlt, betrügt und bettelt; als ungläubiger Heide und als „Verbündeter des Teufels“, der über übernatürlichen Zauber verfügt; als unreine und unmoralische „Asoziale“; als Spione der Türkei. Sie gelten als die Personifizierung des Bösen und des Minderwertigen. Allein in Deutschland werden zwischen 1497 und 1774 insgesamt 146 Verordnungen erlassen, die alle Arten von Gewalt an Sinti und Roma gestatten. In Mähren schneidet die Staatsgewalt gefangenen Roma das linke Ohr ab, in Böhmen das rechte. In Österreich wird den Roma ein Galgen auf den Rücken gebrannt. Frankreich setzt zur Ergreifung von Roma Kopfgelder aus. Friedrich Wilhelm von Preußen führt die Todesstrafe ein für das „Vergehen“, ein Rom zu sein.

Die Roma scheinen das Fremde an sich, und dann ist die liedhafte Seligkeit des „Zigeunerlebens“ nicht mehr „lustig“. Über die Jahrhunderte gärt der Antiziganismus – bis er die Sinti und Roma in den Abgrund des „Parajmos“ stürzt. Bis die Menschheit in der Barbarei von Auschwitz versinkt. Bis die Aufklärung sich im Nichts auflöst und die bürgerliche Zivilisation zusammenbricht.

Über 1 Million Juden sterben in Auschwitz-Birkenau – durch Arbeit, durch Hunger, durch Misshandlung, durch das Gas. Und auf dieselbe Weise sterben weitere Hunderttausende von Menschen – unter ihnen eine halbe Million Sinti und Roma – einzig und allein wegen ihrer Geburt. „Entscheidend ist, dass Sinti und Roma wie Juden vom Säugling bis zum Greis nur aufgrund ihrer bloßen Existenz zu Opfern einer staatlich organisierten Mordpolitik wurden, die sich bis heute allen historischen Vergleichen entzieht.“ (Rose) Wenngleich die Sinti und Roma mit dem Mute der Verzweifelung und mit dem Bekenntnis zum eigenen Menschsein Widerstand gegen die SS-Schergen leisten, fallen 500.000 Angehörige der Minderheit dem systematischen Massenmord des Nationalsozialismus zum Opfer.

Die Öffentlichkeit allerdings nimmt den Holocaust an den Sinti und Roma Jahrzehnte lang nicht zur Kenntnis. Staat, Politik und Gesellschaft der BRD praktizieren nach dem Ende des Nationalsozialismus eine „zweite Verfolgung“ der Sinti und Roma und laden dabei eine „zweite Schuld“ (Giordano) auf sich. Der neue Staat ermöglicht weder die Integration der RückkehrerInnen noch gewährt er ihnen die angemessene Entschädigung.

1982 endlich – im Zuge der erstarkenden Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma – erkennt die Bundesrepublik die Ermordung der 500.000 Sinti und Roma durch die Einmaligkeit des Nationalsozialismus als Völkermord an. Trotzdem bleiben Sinti und Roma bis heute Ermordete zweiter Klasse. Erst nach beschämendem Zaudern wird ihnen im März 2003 ein eigenes Denkmal in Berlin zum Gedenken an die ermoderten Angehörigen bewilligt, und bis heute ist dieses Mahnmal wegen einer politischen Kontroverse um die Inschrift nicht gebaut. „Selbst als Tote werden die Roma ausgegrenzt.“ (Grass)

Der Weg der Sinti und Roma durch die Geschichte ist ein Weg der Passion. Die Erinnerung an Schmerz, Leid und Tod und insbesondere an das „Trauma der nationalsozialistischen Verfolgung“ (Rakelmann) gestaltet ihre Identität und ihren Alltag. Verarmung, Verfolgung und Vernichtung gehören zu ihren historischen Erfahrungen wie zu ihrer gegenwärtigen Existenz. Die geschichtlichen Variationen des antiziganistischen Stereotyps kulminieren in der Absurdität des so genannten „Zigeuner-Gens“.

Sinti und Roma in der Gegenwart der BRD

Heute leben über die Erde verteilt ca. zwölf Millionen Sinti und Roma. Die meisten von ihnen, nämlich acht Millionen, sind als nationale Minderheit in Europa zu Hause, namentlich in Spanien, Portugal, Rumänien, Tschechien, Bulgarien, Ungarn oder der Slowakei. In der BRD haben 50.000 Sinti und 30.000 Roma ihre Heimat, zumeist gläubige Katholiken und sesshaft. Sinti und Roma genießen den Minderheitenstatus des Europa-Parlaments; die Bundesrepublik Deutschland hat sich 1995 der Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten per Ratifizierung angeschlossen. Die Sprache der Sinti und Roma, das Romanes, ist durch die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitssprachen, die in der BRD auf Länderebene zusätzlich unterstützt wird, besonders geschützt.

Bis heute sind Sinti und Roma kein gleichberechtigtes Mitglied der Weltgemeinschaft, der europäischen Familie oder der BRD. Der gegenwärtige Diskurs aktualisiert die historischen Muster der Dehumanisierung der Minderheit und konstituiert „den neuen und immer häufiger auftretenden Rassismus gegen Sinti und Roma.“ (Rose)

April 1990
eine Diskothek in Leer verhängt eine „Eintrittssperre“ für Sinti und Roma wegen der angeblich „krummen Geschäfte“ „dieser Kreise“
August 1990
der Stadtrat von Lebach verabschiedet eine Resolution gegen die Unterbringung von „asozialen, unzivilisierten und kriminellen“ Roma-Flüchtlingen
Herbst 1992
das Amt für Ausländerangelegenheiten in Rotenburg / Wümme stellt vor seiner Eingangstür so genannte „Zigeunerbesen“ auf, um Sinti- und Roma-AntragsstellerInnen abzuschrecken
März 1993
die rechtsextreme „Deutsche Liga für Volk und Heimat“ verteilt in Köln 3.000 Steckbriefe sowie 50.000 Flugblätter und setzt eine „Belohnung von 1.000 DM“ für die „Ergreifung der Landfahrerin Nidar Pampurova“ aus, einer Romni, die von Abschiebung bedroht ist
Juli 1993
der Leiter des Amtes für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt / M., Cohn-Bendit, unterstellt Sinti und Roma eine Tendenz zur Kriminalität und bezichtigt sie des Sozialhilfebetruges
August 1993
in Dolgenbrodt wird ein Haus, in das einen Tag später Roma-Flüchtlinge einziehen sollen, in Brand gesteckt; den Brandstifter, einen rechtsextremistischen Skinhead aus dem Nachbardorf, bezahlen die BürgerInnen Dolgenbrodts mit 2.000 DM
April 1995
die Kölner Polizei bringt nach einer Razzia bosnische Roma-Frauen im „gebärfähigen Alter“ in die Universitätsklinik, wo einige Frauen zwangsweise gynäkologisch untersucht werden
Oktober 1996
das Amtsgericht Bochum stellt in einem Urteil fest, „Zigeuner“ seien keine „durchschnittlich geeigneten Mieter mit zutreffender Zukunftsprognose“, da diese „Bevölkerungsgruppe traditionsgemäß überwiegend nicht sesshaft“ sei
Herbst 1997
Gastwirte der Stadt Stade hängen Plakate mit der Aufschrift „Pferdewurst“ auf, damit „sie die Zigeuner loswerden“ könnten, die seit Jahrzehnten in der niedersächsischen Kleinstadt wohnen
November 1998
Unbekannte schänden in Magdeburg das Mahnmal für die während der NS-Zeit ermordeten Magdeburger Sinti und Roma
August 1999
in Limeshain verüben Unbekannte einen Brandanschlag auf ein Wohnhaus und sprühen nach der Zerstörung die Worte „Zigeuner“ und „Auslender“ an die Hauswand
Oktober 1999
Sinti und Roma werden von den Verhandlungen über Entschädigungszahlungen für Opfer des Nationalsozialismus ausgeschlossen
Oktober 1999
Frankfurter Firmen lehnen einen Rastplatz für Sinti und Roma in einem Gewerbegebiet ab
Mai 2000
in Frankfurt / M. beklagen sich Gastwirte über Einnahmeverluste wegen bettelnder Roma-Kinder
August 2000
ein ostfriesischer Kommunalpolitiker diffamiert Sinti und Roma als „Wirtschaftsflüchtlinge“ und „Ballast für unsere Gesellschaft und Kultur“
Juli 2001
Rechtsextremisten werfen im brandenburgischen Wildau Molotow-Cocktails auf eine Zusammenkunft von Roma-Wohnwagen
August 2001
das Landgericht Kempten erlaubt den Begriff „Zigeunerjude“ als wertfreie Meinungsäußerung
September 2001
in Offenbach dürfen Sinti und Roma in zahlreichen Geschäften nicht einkaufen
September 2002
die Staatsanwaltschaft Düsseldorf untersucht den Verdacht der schweren Nötigung, der Untreue und der Behinderung der Versammlungsfreiheit gegen den Oberbürgermeister Erwin, der mehrfach Demonstrationen von Roma behindert haben soll
März 2005
die Oberstaatsanwaltschaft in Ravensburg verweigert eine strafrechtliche Verfolgung eines Faschingswagens mit der Beschriftung „Zack Zack Zigeunerpack“, da die Formulierung lediglich „zur Belustigung“ beitrage und die Beschuldigten keinen „extremen Bevölkerungsgruppen oder Vereinigungen“ angehörten
März / April 2005
erst nach langem Widerstand und vielfältigen Protesten darf Romani Rose als Repräsentant der Sinti und Roma bei der Gedenkfeier zur Befreiung des KZ Buchenwald am 10. April 2005 in Weimar eine Ansprache halten
November 2005
ein Kriminalhauptkommissar aus Fürth wird wegen Verunglimpfung der Sinti und Roma strafversetzt
September 2006
das Amtsgericht Frankfurt / M. verurteilt einen Polizisten wegen Körperverletzung im Amt an einer Romni zu einer Geldstrafe unter Strafvorbehalt und zur Zahlung einer Geldbuße

Sinti und Roma in Europa

Europaweit sind die Sinti und Roma diejenige Gruppe, die am meisten verachtet und diskriminiert wird. Die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit identifiziert in ihrem Bericht vom November 2006 die Roma als meistbetroffene Opfer rassistischer Diskriminierung und Gewalt in Europa. „Die Lebenserwartung ist niedrig, die Säuglingssterblichkeit bei 50%; einige Länder organisieren Sterilisationen von Roma-Frauen. Seit den 80er Jahren, verstärkt seit der „Wende“, werden sie überall in Ost-und Südosteuropa Opfer von Pogromen, Vertreibungen, Bürgerkriegen.“ (Holl) Amnesty International stellt in ihrem Jahresbericht 2006 die europaweite Diskriminierung der Roma an den Pranger: „Angehörige der Roma sahen sich vielerorts im öffentlichen wie privaten Bereich weiterhin schweren Benachteiligungen ausgesetzt, beispielsweise beim Zugang zu Wohnraum, Erwerbsarbeit, Bildung und Gesundheitsfürsorge. Darüber hinaus wurden sie zur Zielscheibe rassistischer Praktiken der Strafverfolgungsorgane.“ Im März 2007 veröffentlicht Unicef zwei Studien über die Lage von Roma-Kindern in Südosteuropa und der BRD, die die Armut und die gesellschaftliche Ausgrenzung von Roma-Kindern belegen: „Millionen Roma-Kinder wachsen mitten in Europa in Verhältnissen auf, die oft nicht besser sind als in armen Entwicklungsländern. Die Mehrheit der Familien wohnt in slumartigen Unterkünften. Die Kinder haben nur beschränkt Zugang zu Kindergärten und Schulen und sind medizinisch schlecht versorgt. Auch in Deutschland leben rund 50.000 Roma-Flüchtlinge aus dem Balkan – die meisten ohne sicheren Aufenthaltsstatus und mit eingeschränkten Rechten.“ Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen fordert die europäischen Staaten dazu auf, den europaweiten Rassismus gegen die Roma zu bekämpfen und deren ökonomische, gesellschaftliche, soziale und kulturelle Lebenswirklichkeiten zu verbessern.

In Rumänien, Tschechien, Ungarn, Bulgarien und anderen europäischen Staaten verwehrt die Mehrheitsbevölkerung den Roma ein gleichberechtigtes Miteinander:

August 1999
vor dem Eingang einer Roma–Ansiedlung in Italien vergraben Unbekannte eine Mine
Oktober 1999
die tschechische Stadt Usti nad Labem isoliert ein Roma-Viertel durch eine Mauer
April 2000
mit Geldprämien will der italienische Badeort Rimini Roma-Familien zum Verlassen ihrer Wohnungen zwingen
Oktober 2000
Umfragen belegen, dass 33% aller Ungarn Roma auch als Flüchtlinge nicht ins Land lassen wollen und dass 47% es richtig finden, dass Roma beispielsweise der Zutritt zu vielen Nachtclubs verboten ist
Januar 2002
wegen der fortgesetzten Diskriminierung von Roma, insbesondere durch brutale Übergriffe der Polizei, rügt der Europart Rumänien
Juli 2002
der Europarat kritisiert die Ukraine und Lettland wegen einer repressiven Polizeipraxis gegenüber Roma und wegen unzulänglicher Lebensbedingungen der Minderheit
Januar 2005
Demonstranten bedrohen im spanischen Cortegana mit Steinen und Äxten eine Roma–Gemeinschaft
Juli 2006
der Führer der slowakischen Regierungspartei SNS, Jan Slota, fordert „dazu auf, „Zigeunnerinnen mit dem Gummiknüppel zu verprügeln“, die Roma-Minderheit in „seperate Dörfer“ zu verfrachten und ihnen ihre Kinder wegzunehmen, um sie in Internate zu bringen“
Oktober 2006
BürgerInnen des slowenischen Dorfes Ambrus vertreiben die BewohnerInnen einer benachbarten Roma-Siedlung aus ihren Häusern.
August 2007
im bulgarischen Samakov prügeln Jugendliche einen Rom zu Tode

Einzelne Nationalstaaten richten Gesetze zum Schutz der Sinti und Roma ein, so wie die Europäische Union ein Abkommen über Minderheiten verabschiedet hat. Darüber initiiert die EU eine „Decade of Roma Inclusion, die Dekade der Roma-Integration 2005 bis 2015 und die Gründung des Roma Education Funds“, mit denen bis zum Jahre 2015 der soziale Abstand zwischen Roma-Minderheit und Mehrheitsbevölkerung abgebaut und die Bildungsförderung forciert werden sollen. Wie auch die Vereinten Nationen konzipiert die EU Entwicklungsprogramme zur Integration der Roma in ihren Heimatländern. Mit den 43 Millionen Dollar des Roma Education Fund sowie den Mitteln der Programme EQUAL und PHARE ist die EU inzwischen „der größte Geldgeber für Hilfsprojekte zugunsten der Roma-Bevölkerung in den neuen EU-Mitgliedsländern – allerdings ohne dass die Förderprogramme die „Situation der Roma in der erweiterten Europäischen Union allgemein verbessert hätten: „Zu wenig hat sich auf der lokalen Ebene geändert (…).“ (Heuß)

Die Roma selbst formieren sich im Zuge einer europaweiten Politisierung verstärkt als autonome Interessensvertretung, die sich auf nationalen Kongressen und in multinationalen
Institutionen gegen Diskriminierung und Rassismus zu Wort meldet. So formiert sich im Dezember 2005 das „Forum über Roma und Fahrende“ als kontinentales Sprachrohr, das sich insbesondere für eine Verbesserung der Lebensbedingungen der europäische Roma einsetzt, und eine internationale Roma-Initiative nutzt die modernen Medien, um der Minderheit mit der Unterstützung des Europarates, der Europäischen Kommission, des United Nations Development Programme und der OSZE eine eigene Stimme zu verleihen. „Wenn Europa den Roma hilft, zu überleben, dann helfen die Roma sowohl den weniger als auch den hoch entwickelten europäischen Ländern, sich von der Xenophobie und dem Rassismus zu befreien. Jegliche Hilfe, die Europa den Roma zuteil werden lässt, geben die Roma tausendfach zurück.“ (Jakšić)

Zur Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma

Auf internationaler Ebene gründet sich im April 1971 die Romani Union. Als Dachverband der europäischen Interessensvertretung der Sinti und Roma bekämpft sie den anhaltenden Rassismus gegen die Sinti und Roma. Seit 1979 nutzt die Internationale Romani Union ihren Beraterstatus bei den Vereinten Nationen, um einerseits die Sinti und Roma weltweit zu repräsentieren und um andererseits Resolutionen zum Schutz der Sinti und Roma vor rassistischer Diskriminierung und Gewalt zu beantragen. Das Engagement der Internationalen Romani Union befördert in der Europäischen Union die Verbesserung des Status und der sozialen Position der Sinti und Roma in Europa, z.B. durch das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten und die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen. Darüber hinaus befürworten Teile der Internationalen Romani Union eine eigene Nationalität der Sinti und Roma, die sich in einem Staat „Romanestan“ materialisieren solle. Für die deutschen Sinti und Roma favorisiert der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma stattdessen den Status einer nationalen Minderheit in der BRD.

Um die Ursachen und die „Auswirkungen von fortdauerndem Rassismus in der Bundesrepublik Deutschland auf die Minderheitengruppe der Sinti und Roma“ (Rose) zu bekämpfen, formiert sich in der BRD die Bürgerrechtsbewegung der Minderheit. Das „Zentral Komitee der Zigeuner“ 1960 in Frankfurt und die Initiativen einzelner Sinti und Roma wie Oskar Rose und Vinzenz Rose stoßen kaum auf Resonanz. So lehnen z.B. Bundespräsident Gustav Heinemann und Bundeskanzler Willy Brandt 1972 Gespräche mit dem „Verband der Sinti Deutschlands“ ab. Mitte der 1970er Jahre entwickelt insbesondere die Nachkriegsgeneration der Sinti und Roma die neue Bürgerrechtsbewegung, die sich selbstbestimmt und selbstbewusst für die Emanzipation der Minderheit engagiert. Sowohl die internationale Gedenkveranstaltung im ehemaligen KZ Bergen-Belsen vom Oktober 1979 als auch der Hungerstreik in der Gedenkstätte Dachau Ostern 1980 verändern aufgrund der großen öffentlichen Aufmerksamkeit nachhaltig das Klima der öffentlichen Diskurse. Am 17. März 1982 empfängt Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Delegation des Zentralrats und erkennt die NS-Verbrechen an den Sinti und Roma als Völkermord an. Bundespräsident Richard von Weizsäcker erinnert 1985 in seiner Ansprache zum 40. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus ebenfalls an den Genozid: „Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma (…).“ Mit der Anerkennung des Völkermordes an den Sinti und Roma aus „rassischen“ Motiven besitzt der neue „Zentralrat Deutscher Sinti und Roma“, der seit 1982 auf nationaler und internationaler Ebene die deutschen Sinti und Roma repräsentiert, eine fundierte Basis seiner Arbeit gegen Rassismus und Diskriminierung. Das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, das 1990 in Heidelberg entsteht, begleitet die politische Arbeit des Dachverbandes und der neun Landesverbände, indem es als eigenständige Fachinstitution die Geschichte und die Gegenwart der Sinti und Roma „aufarbeitet und im kollektiven Gedächtnis verankert. „Diese Aufgabe haben wir gleichzeitig als einen unerlässlichen Beitrag für das demokratische Selbstverständnis und für die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland verstanden. Galt es doch aufzuzeigen, dass Vorurteile und staatliche Diskriminierungen, die unmittelbar auf den rassistischen Vorurteilen und Denkstrukturen der Nationalsozialisten beruhen, bis heute fortbestehen und das Bild unserer Minderheit in der Öffentlichkeit noch immer weithin prägen.“ (Rose) Im Jahre 2001 wurde auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau eine ständige Ausstellung zum Völkermord an den Sinti und Roma eingeweiht.

Zur Erinnerung an die Kinder von der St. Josephspflege in Mulfingen

Julia
“So tief ist keine Versenkung, dass alle Spuren vernichtet werden könnten, nichts Menschliches ist so vollkommen; dazu gibt es zu viele Menschen in der Welt, um Vergessen endgültig zu machen.“ (Arendt)

Yvonne
“Ich habe meine Eltern und Geschwister wieder gefunden. Wir sind auf dem Transport ins Konzentrationslager. Ich weiß, was uns bevorsteht, meine Eltern wissen es nicht. Ich habe mich innerlich so weit durchgerungen, dass ich auch den Tod ertragen werde. Ich danke noch einmal für alles Gute, das Sie mir erwiesen. Grüße an alle Kameraden. Auf Wiedersehen im Himmel! Euer Robert.“
Robert Reinhardt (14)

Amandus, Martin, Friedrich, Ferdinand, Sofie, Wilhelm, Rosa, Johann, Elise, Anton, Franz, Olga, Johanna, Anton, Josef, Thomas, Sonja, Otto, Elisabeth, Karl, Luise, Martha, Klara, Ottilie, Andreas, Adolf, Amalie, Anton, Scholastika, Karl, Josef, Maria, Rosina, Rudi, Maria, Siegfried, Luana.

Michael
“Einer wird immer bleiben, um die Geschichte zu erzählen.“ (Arendt)

Mabura
“Dass Auschwitz nicht noch einmal sei (…).“ (Adorno)

Melanie
“Damit dieser Planet ein Ort bleibt, wo Menschen wohnen können.“ (Arendt)

Mehr Informationen

Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Bremeneckgasse 2
69117 Heidelberg

Telefon: 06221 / 981102

www.sintiundroma.de

Lesetips

  • Krausnick, Michail (Hrsg.): Da wollten wir frei sein. Weinheim und Basel 1993
  • Gilsenbach. Reimar: Oh Django, sing deinen Zorn. Berlin 1993
  • Krausnick, Michail: Wo sind sie hingekommen? Gerlingen 1995
  • Reemtsma, Katrin: Sinti und Roma. München 1996
  • Wippermann, Wolfgang: Wie die Zigeuner. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich. Berlin 1997
  • Fonseca, Isabel: Begrabt mich aufrecht. München 1998
  • Mettbach, Anna / Behringer, Josef: „Wer wird die nächste sein?“ Die Leidensgeschichte einer Sintezza, die Auschwitz überlebte. Frankfurt / M. 1999
  • Rose, Romani (Hrsg.): Den Rauch hatten wir täglich vor Augen. Heidelberg 1999 (auch als CD-Rom). Heidelberg 1999
  • Winter, Walter Stanoski: Winterzeit. Hamburg 1999
  • Winckel, Änneke: Antiziganismus. Rassismus gegen Sinti und Roma im vereinigten Deutschland. Münster 2002
  • Rose, Romani (Hrsg.): Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma. Katalog zur ständigen Ausstellung im Staatlichen Museum Auschwitz. Heidelberg 2003
  • Hanstein, Ewald: Meine hundert Leben. Erinnerungen eines deutschen Sinto. Bremen 2005
  • Krausnick, Michail: Elses Geschichte. Ein Mädchen überlebt Auschwitz. Düsseldorf 2007

Videotips

  • Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma: Auf Wiedersehen im Himmel. Die Sinti-Kinder von der St. Josephspflege. 1994
  • Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma: Szczurowa. 1998